Das Ziel der stoischen Ethik
Je mehr wir wünschen über Objekte unserer Begierde außerhalb von uns zu verfügen, umso abhängiger wird unser Wohlbefinden davon sein. Dies ist eine universelle, alle Menschen betreffende Tatsache, die als zentrale Einsicht zugleich den Ausgangspunkt der stoischen Ethik bildet. Jeder kann dies für sich überprüfen. Doch zeugt eine derartige Selbsterkenntnis noch nicht von Weisheit. Wer die Grundidee der stoischen Ethik verstehen will, der muss verstehen, auf welche Art von Praxis sie abzielt. Das Ziel der stoischen Ethik ist nämlich anspruchsvoller als bloßes Verstehen oder bloßes Nachahmen von Handlungen. Das Ziel ist schließlich ein echtes Können im Umgang mit den eigenen Begierden. Wer wirklich ein Stoiker ist, zeigt sich dadurch, ob er fähig ist, selbst in emotional schwierigsten Situationen strikt bestimmten rationalen Prinzipien zu folgen. Ein solches Können ist jedoch schwer zu erlernen. Das große Vorbild der Stoiker war Sokrates, der ohne jede Furcht dem Tod entgegentrat und obwohl er flüchten konnte, den Schierlingsbecher und damit seinen Tod wählte. Ein Ereignis also, vor dem wir alle uns fürchten, konnte Sokrates nicht aus seiner Seelenruhe bringen. Warum? Wenn wir die Antwort der Stoiker auf diese Frage verstehen, haben wir bereits die Grundidee der stoischen Ethik erfasst. Die Antwort lautet: weil er der Vorstellung, dass der Tod ein Übel sei, nicht zugestimmt hat. Menschen leiden unter Verlustgefühlen genau dann, wenn sie der Vorstellung zustimmen, dass es sich wirklich um einen Verlust handelt. Dies klingt trivial, ist aber in Wahrheit oft schwer nachvollziehbar. Ganz „normale“ Menschen unterscheiden in emotional schwierigen Situationen, die mit einem Gefühl des Verlusts einhergehen, im Grunde nie zwischen dem, worauf es den Stoikern ankommt. Sie unterscheiden nicht zwischen der Vorstellung eines scheinbaren Verlusts, die das Gefühl des Verlusts erzeugt und dem Gefühl des Verlusts selbst. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren all Ihr Hab und Gut und leiden furchtbar darunter. Der Stoiker sieht den Grund darin, dass Sie der Vorstellung zugestimmt haben, etwas Wertvolles verloren zu haben. Diese Zustimmung aber obliegt Ihnen. Beachten Sie, dass wahrscheinlich kein Mensch in Ihrer Umgebung die Situation eines tragischen persönlichen Verlusts zum selben Zeitpunkt so abgeklärt analysieren würde. In persönlichen Extremsituationen wie diesen, die mit heftigen emotionalen Schmerzen einhergehen, sind wir kaum in der Lage, so nüchtern und klar zu denken wie es die stoische Ethik verlangt. Genau das aber praktizierten die Stoiker in allen Lebenssituationen. Sie übten eine Form von ethischer Praxis, die uns heute unbekannt geworden ist. Verstehen, Motivation, guter Wille, Entschlossenheit sind schön und gut, aber noch nicht hinreichend für ein solches Können. Können und Wollen müssten dazu mit dem ganzen Wesen eines Menschen so verschmelzen, dass er in jeder Lebenssituation dazu fähig ist. So wie ein Tennisprofi jederzeit seine Fähigkeit nützen kann, so will es auch der Stoiker können. Das praktische Können zielt auf das jeweils beste Handeln. Dieses ist im Idealfall zu einem fixen Bestandteil seines Wesens geworden und kann von ihm nicht mehr getrennt werden. Eines der wertvollsten Güter war den Stoikern die Seelenruhe (apathie). Der stoische Weise zeichnet sich dadurch aus, dass er zwar positive Gefühle intensiv erleben kann, jedoch stets in der Lage ist, selbst zu bestimmen, wie sehr er sich von negativen Emotionen aus der Ruhe bringen lässt. Er hat eine Form von Macht, Freiheit und Glückseligkeit erreicht, die heute niemand mehr mit diesen Begriffen assoziiert.
https://www.treffpunkt-philosophie.ch/portfolio/die-weisheit-des-stoikers-epiktet/